Der Lagrange-Formalismus

Der Lagrange-Formalismus ist die eleganteste Methode, um Bewegungsgleichungen zu lösen, bei denen Teilchen oder Körper sich nicht frei bewegen können, sondern Zwangskräften ausgesetzt sind. So kann z.B. ein Körper auf einer schiefen Ebene eben nur diese Ebene herunterrollen oder -gleiten, und ein Pendel kann sich eben nur auf der durch den Faden vorgegebenen Bahn bewegen.

Entscheidend ist dabei jedoch, dass die am besten geeigneten Koordinaten zur Beschreibung des physikalischen Sachverhaltes gewählt werden, also Koordinaten, welche die Bewegung am besten (und einfachsten!) beschreiben. Beim Pendel würde man also gewiss kein \(x,y\)-Koordinatensytem wählen, sondern den Winkel zwischen Faden und Vertikale, und bei der schiefen Ebene würde man die auf der Schräge zurückgelegte Strecke wählen, wie wir das bereits hier getan haben. Diese dem Problem angepassten Koordinaten nennt man im Zusammenhang mit dem Lagrange-Formalismus generalisierte Koordinaten.

Der Lagrange-Formalismus beginnt mit der Aufstellung der Lagrange-Funktion. Dies ist einfach die Differenz zwischen kinetischer und potentieller Energie (“Potential”):

\[ L = E_{kin} - E_{pot} \hspace{2cm} (1) \] (gewöhnlich schreibt man \(L = T -V\), wobei \(T\) die kinetische Energie und \(V\) das Potential ist. Wir halten uns hier jedoch an die in den vorangegangenen Lektionen eingeführten Bezeichnungen.) Die Lagrange-Funktion hängt von einer oder mehreren generalisierten Koordinaten \(q_i\) und deren zeitlichen Ableitungen \(\dot{q_i}\) ab. (ein Punkt über der Variable bedeutet dessen zeitliche Ableitung: \(\dot{q_i} \equiv dq_i/dt\)). Wir nehmen im Folgenden der Einfachheit halber an, dass \(L\) nur von einer Variablen \(q\) und deren Zeitableitung \(\dot{q}\) abhängt.

Die Bewegungsgleichung im Lagrange-Formalismus lautet dann:

\[ \frac{d}{dt} \frac{\partial L}{\partial \dot{q}} - \frac{\partial L}{\partial q} = 0 \hspace{2cm} (2) \] Man beachte hier besonders die partiellen Ableitungen nach \(q\) bzw \(\dot{q}\): implizite Abhängigkeiten werden hier also nicht beachtet. Wir werden das gleich an mehreren Beispielen sehen.


Kinetische und potentielle Energie an der schiefen Ebene

Wir werden hier wieder das Abrollen bzw. Gleiten an der schiefen Ebene betrachten.


Die Ausdrücke für die potentielle Energie und für die kinetischen Energien von drei verschiedenen Körpern wurden bereits hier und hier abgeleitet. Hier noch einmal die wichtigsten Beziehungen:

\[ E_{pot} = E_{pot}(s) = m \cdot g \cdot h \cdot \frac{ (L-s)}{L} \] \(\hspace{1cm}\) Hier ist \(m\) die Masse des Körpers, \(g=9.81 \; m/s^2\) die Erdbeschleunigung, \(h\) die Höhe der schiefen Ebene und \(L\) deren Länge (Skizze).


\[ E_{kin} = \frac{3}{4} \cdot m \cdot v^2 \]

\[ E_{kin} = \frac{7}{10} \cdot m \cdot v^2 \]

\[ E_{kin} = \frac{m}{2} \cdot v^2 \] Man beachte, dass überall \(v=ds/dt\) ist. Die Variable \(s\) ist hier also die generalisierte Koordinate, alle Größen hängen nur von \(s\) oder \(\dot{s} = v\) ab.


Bewegungsgleichung für den rollenden Vollzylinder

Die Lagrange-Gleichung (1) lautet jetzt:

\[ \frac{d}{dt} \frac{\partial L}{\partial v} - \frac{\partial L}{\partial s} = 0 \hspace{2cm} (3) \] denn die generalisierte Koordinate ist \(s\) und \(\dot{s}=ds/dt=v\).

Wir berechnen die partiellen Ableitungen:

\[ \frac{\partial L}{\partial v}= \frac{\partial }{\partial v} \Bigg[ E_{kin}-E_{pot}\Bigg] = \frac{\partial }{\partial v} \Bigg[ \frac{3}{4} \cdot m \cdot v^2 - m \cdot g \cdot h \cdot \frac{ (L-s)}{L} \Bigg] = \frac{3}{2} \cdot m \cdot v \] \[ \frac{\partial L}{\partial s}=\frac{\partial }{\partial s} \Bigg[ E_{kin}-E_{pot}\Bigg]=\frac{\partial }{\partial s}\Bigg[ \frac{3}{4} \cdot m \cdot v^2 - m \cdot g \cdot h \cdot \frac{ (L-s)}{L} \Bigg]= \frac{m \cdot g \cdot h }{L} \] Wir brauchen noch \(\frac{d}{dt} \frac{\partial L}{\partial v}\):

\[ \frac{d}{dt} \frac{\partial L}{\partial v} = \frac{d}{dt} \Bigg[ \frac{3}{2} \cdot m \cdot v\Bigg] = \frac{3}{2} \cdot m \cdot \dot{v} = \frac{3}{2} \cdot m \cdot \ddot{s} \] Es ist \(\dot{v} = \ddot{s} = a\) die Beschleunigung auf der schiefen Ebene entlang der generalisierten Koordinate \(s\).

Mit diesen Ausdrücken erhalten wir die Lagrange-Gleichung für den rollenden Zylinder:

\[ \frac{3}{2} \cdot m \cdot \ddot{s} - \frac{m \cdot g \cdot h }{L} = 0 \] Wir stellen nach der Beschleunigung \(\ddot{s}\) um erhalten wir die sehr einfache Beziehung:

\[ \ddot{s} = \frac{2}{3} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \hspace{2cm} (4) \]

Alternativ hätten wir die Winkelbeschleunigung \(a_\theta\) mit Hilfe des 2. Newtonschen Axioms für Drehbewegungen berechnen können, also mit \(\vec{M} = J \cdot \vec{a_{\theta}}\). Die Berechnung des Drehmomentes \(\vec{M}\) ist aber selbst in diesem relativ einfachen Fall recht umständlich.

Auf der rechten Seite von (4) steht eine Konstante. Daher kann die Gleichung leicht zweimal integriert werden, um die Weg-Zeit-Funktion zu erhalten:

\[ s(t) = \frac{1}{3} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \cdot t^2 + v_0 \cdot t + s_0 = \frac{1}{3} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \cdot t^2 \] Im letzten Schritt wurde \(v_0=0\) und \(s_0=0\) benutzt.

Wir können diese Gleichung nach \(t\) umstellen, um zu berechnen, wann der Zylinder am Fuß der schiefen Ebene (z. B. bei \(s=10\)) ankommt:

\[ t = \sqrt{ \frac{3 \cdot L \cdot s}{g \cdot h} } \]

L = 10
h = 2
g = 9.81
s = 10

t = sqrt(3*L*s/g/h)
t
## [1] 3.910309

Dies ist genau die Zeitspanne, die wir schon zuvor bedeutend umständlicher erhalten hatten.


Bewegungsgleichung für die rollende Vollkugel

Wir beginnen wieder mit der Berechnung der partiellen Ableitungen. Für die Vollkugel ändert sich nur der Ausdruck für die kinetische Energie, da die Kugel ein anderes Trägheitsmoment besitzt:

\[ \frac{\partial L}{\partial v}= \frac{\partial }{\partial v} \Bigg[ E_{kin}-E_{pot}\Bigg] = \frac{\partial }{\partial v} \Bigg[ \frac{7}{10} \cdot m \cdot v^2 - m \cdot g \cdot h \cdot \frac{ (L-s)}{L} \Bigg] = \frac{7}{5} \cdot m \cdot v \] \[ \frac{\partial L}{\partial s}=\frac{\partial }{\partial s} \Bigg[ E_{kin}-E_{pot}\Bigg]=\frac{\partial }{\partial s}\Bigg[ \frac{7}{10} \cdot m \cdot v^2 - m \cdot g \cdot h \cdot \frac{ (L-s)}{L} \Bigg]= \frac{m \cdot g \cdot h }{L} \]

Der Ausdruck \(\partial L / \partial s\) ist der Gleiche wie für den Zylinder.

Wir brauchen noch \(\frac{d}{dt} \frac{\partial L}{\partial v}\):

\[ \frac{d}{dt} \frac{\partial L}{\partial v} = \frac{d}{dt} \Bigg[ \frac{7}{5} \cdot m \cdot v\Bigg] = \frac{7}{5} \cdot m \cdot \dot{v} = \frac{7}{5} \cdot m \cdot \ddot{s} \] Es ist \(\dot{v} = \ddot{s} = a\) die Beschleunigung auf der schiefen Ebene entlang der generalisierten Koordinate \(s\).

Mit diesen Ausdrücken erhalten wir die Lagrange-Gleichung für die rollende Kugel:

\[ \frac{7}{5} \cdot m \cdot \ddot{s} - \frac{m \cdot g \cdot h }{L} = 0 \] Die Gleichung unterscheidet sich bloß um eine Konstante von der Gleichung für den Zylinder. Nach Umstellen erhalten wir die einfache Beziehung:

\[ \ddot{s} = \frac{5}{7} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \hspace{2cm} (5) \] Auf der rechten Seite von (5) steht eine Konstante. Daher kann die Gleichung leicht zweimal integriert werden, um die Weg-Zeit-Funktion zu berechnen:

\[ s(t) = \frac{5}{14} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \cdot t^2 \] (Wieder wurde \(v_0=0\) und \(s_0=0\) benutzt).

Wir können diese Gleichung nach \(t\) umstellen, um zu berechnen, wann der Zylinder am Fuß der schiefen Ebene (z. B. bei \(s=10\)) ankommt:

\[ t = \sqrt{ \frac{14 \cdot L \cdot s}{5 \cdot g \cdot h} } \]

t = sqrt(14*L*s/5/g/h)
t
## [1] 3.777718

Dies ist genau die Zeitspanne, die wir schon zuvor bedeutend umständlicher erhalten hatten.


Bewegungsgleichung für den gleitenden Quader

Wir beginnen wieder mit der Berechnung der partiellen Ableitungen. Für den Quader ändert sich nur der Ausdruck für die kinetische Energie, der besonders einfach ist, da der Quader nicht ins Rollen kommt:

\[ \frac{\partial L}{\partial v}= \frac{\partial }{\partial v} \Bigg[ E_{kin}-E_{pot}\Bigg] = \frac{\partial }{\partial v} \Bigg[ \frac{1}{2} \cdot m \cdot v^2 - m \cdot g \cdot h \cdot \frac{ (L-s)}{L} \Bigg] = m \cdot v \] \[ \frac{\partial L}{\partial s}=\frac{\partial }{\partial s} \Bigg[ E_{kin}-E_{pot}\Bigg]=\frac{\partial }{\partial s}\Bigg[ \frac{1}{2} \cdot m \cdot v^2 - m \cdot g \cdot h \cdot \frac{ (L-s)}{L} \Bigg]= \frac{m \cdot g \cdot h }{L} \]

Der Ausdruck \(\partial L / \partial s\) ist der Gleiche wie für den Zylinder und die Kugel.

Wir brauchen noch \(\frac{d}{dt} \frac{\partial L}{\partial v}\):

\[ \frac{d}{dt} \frac{\partial L}{\partial v} = \frac{d}{dt} \Big[ m \cdot v\Big] = m \cdot \dot{v} = m \cdot \ddot{s} \]

Es ist \(\dot{v} = \ddot{s} = a\) die Beschleunigung auf der schiefen Ebene entlang der generalisierten Koordinate \(s\).

Mit diesen Ausdrücken erhalten wir die Lagrange-Gleichung für den gleitenden Quader:

\[ m \cdot \ddot{s} - \frac{m \cdot g \cdot h }{L} = 0 \]

Die Gleichung unterscheidet sich bloß um eine Konstante von der Gleichung für den Zylinder oder die Kugel. Nach Umstellen erhalten wir eine einfache Beziehung für die Beschleunigung entlang der schiefen Ebene:

\[ \ddot{s} = g \cdot \frac{h}{L} \hspace{2cm} (6) \]


Dasselbe Ergebnis hätte man in diesem Fall auch mit der 2. Newtonschen Gleichung erhalten (\(a=F/m\)).

Auf der rechten Seite von (6) steht eine Konstante. Daher kann die Gleichung leicht zweimal integriert werden, um die Weg-Zeit-Funktion zu berechnen:

\[ s(t) = \frac{1}{2} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \cdot t^2 \] (Wieder wurde \(v_0=0\) und \(s_0=0\) benutzt).

Wir können diese Gleichung nach \(t\) umstellen, um zu berechnen, wann der Zylinder am Fuß der schiefen Ebene (z. B. bei \(s=10\)) ankommt:

\[ t = \sqrt{ \frac{2 \cdot L \cdot s}{g \cdot h} } \]

t = sqrt(2*L*s/g/h)
t
## [1] 3.192754

Dies ist genau die Zeitspanne, die wir schon zuvor bedeutend umständlicher erhalten hatten.


Plotten

Hier noch einmal eine Zusammenfassung:


\[ s(t) = \frac{1}{3} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \cdot t^2 \]

\[ s(t) = \frac{5}{14} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \cdot t^2 \]

\[ s(t) = \frac{1}{2} \cdot g \cdot \frac{h}{L} \cdot t^2 \]

Formelmäßig gegebene Kurven können in R mit dem curve-Kommando gezeichnet werden.

cylinder <- function(t) {1/3*g*h/L*t^2}
sphere <- function(t) {5/14*g*h/L*t^2}
cube <- function(t) {1/2*g*h/L*t^2}

mtext = "Weg-Zeit-Kurven"
tend.cyl = sqrt(3*L*s/g/h)       # time to reach the ground
curve(cylinder(x), from = 0, to = tend.cyl, n = 100, col = "red", lwd = 1.5, lty = 1, ylab = "s", xlab = "t", main = mtext, font.main = 1)
tend.sph = sqrt(14*L*s/5/g/h)    # time to reach the ground
curve(sphere(x), from = 0, to = tend.sph, n = 100, col = "blue", lwd = 1.5, lty = 1, add = TRUE)
tend.cube = sqrt(2*L*s/g/h)      # time to reach the ground
curve(cube(x), from = 0, to = tend.cube, n = 100, col = "green", lwd = 1.5, lty = 1, add = TRUE)
legend("topleft", c("cylinder", "sphere", "cube"), col=c("red", "blue", "green"), lwd = 2 )
abline(v = tend.cyl, col = "red", lty = 3)  
abline(v = tend.sph, col = "blue", lty = 3)
abline(v = tend.cube, col = "green", lty = 3)

Wir haben hier noch die Laufzeiten bis \(s=10\) mit Hilfe des abline-Kommandos markiert. Wir sehen wieder, dass der Quader zuerst das Ende der schiefen Ebene erreicht. Danach trifft die Kugel ein, zuletzt der Zylinder. Wir hatten dies bereits hier und hier festgestellt und begründet.


uwe.menzel@matstat.org